Bildung in der digitalen Welt: Ulf Jesper – Latein lernen in Online-Kursen

von Ulf Jesper, Institut für Qualitätsentwicklung an Schulen Schleswig-Holstein


Immer wieder stellt sich an Schulen besonders bei kleineren Fächern die Frage, wie es gelingen kann, ausreichend viele Schülerinnen und Schüler zu einem Kurs zu versammeln. In Schleswig-Holstein stellt sich diese Frage regelmäßig im Wahlpflichtbereich am Gymnasium: Hier melden sich nicht selten zu wenige Schülerinnen und Schüler für die dritten Fremdsprachen (vor allem Französisch und Latein) an, sodass es für die jeweilige Schule unmöglich ist, einen so gering besetzten Kurs einzurichten. Diejenigen Schülerinnen und Schüler, die sich für die dritte Fremdsprache melden, sind aber oft besonders stark am Fach interessiert und darum nicht selten genauso stark enttäuscht, wenn ihr Wunsch nicht in Erfüllung gehen kann. Auch aus Sicht der Schulen und Fächer ist es bedauerlich, dass ein ernstes und erfreuliches Bildungsinteresse abgewiesen werden muss. Um diesem Problem zu begegnen, wird in Schleswig-Holstein auf Initiative und in Verantwortung des IQSH (Institut für Qualitätsentwicklung an Schulen Schleswig-Holstein) ein neuer Wege beschritten: Seit dem Schuljahr 2016/17 erhalten Schülerinnen und Schüler die Gelegenheit, in einem landesweiten Online-Kurs Latein als dritte Fremdsprache zu lernen. Die Grundidee: Aus den vielen kleinen Gruppen, für die an den Schulen keine Kurse eingerichtet werden können, wird eine schulübergreifende Gruppe in Klassenstärke. Da das Projekt einen Versuch mit ungewissem Ausgang darstellt und einer Erprobung bedarf, ist es zunächst als Enrichment-Kurs angelegt. Die Schülerinnen und Schüler absolvieren an ihren Schulen dieselbe Stundenzahl wie ihre Mitschülerinnen und Mitschüler und belegen dort auch ein Fach im Wahlpflichtbereich (z. B. das Fach MINT), lernen darüber hinaus aber online auch noch Latein in einem freiwillig belegten Zusatzkurs, der auf zwei Jahre angelegt ist. Damit wendet sich das Angebot eher an leistungsstarke Schülerinnen und Schüler, die diesen zusätzlichen Aufwand erbringen können. Anders als in einem regulären Kurs, der an einer Schule angesiedelt ist, werden im Enrichment-Kurs keine Noten erteilt; die Teilnahme wird aber im Zeugnis vermerkt. Dennoch ist der Online-Kurs keine unverbindliche Arbeitsgemeinschaft: Die Schülerinnen und Schüler werden von ihren Schulen nominiert und verpflichten sich mit der Aufnahme in den Kurs, diesen regelmäßig zu besuchen und aktiv in ihm mitzuarbeiten. Da in der Versuchsphase nur eine begrenzte Zahl an Schülerinnen und Schülern teilnehmen kann – zwanzig Plätze stehen zur Verfügung –, gibt es ein spürbar hohes Maß an Verantwortung, das exklusive Lernangebot auch wahrzunehmen. Selbstverständlich kann der Kurs aber unter gewissen Umständen verlassen werden; dies geschieht nach enger Absprache mit den Eltern und den Schulen. Eine wichtige Aufwertung erfährt der Kurs dadurch, dass er zu einem Zertifikat führt: Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer erhalten die Möglichkeit, das Kleine Latinum zu erlangen. Dazu wird am Ende des zweiten Lernjahres eine Abschlussklausur geschrieben. Der Abschluss des Kurses fällt zusammen mit dem Ende der Sekundarstufe I. Die Schülerinnen und Schüler, die erfolgreich am Online-Kurs teilgenommen haben, können in der sich anschließenden Oberstufe das Fach Latein belegen, nun aber vor Ort in einem regulären Kurs gemeinsam mit Mitschülerinnen und Mitschülern der eigenen Schule, die Latein als zweite Fremdsprache gelernt haben. Der Online-Kurs Latein basiert auf drei Säulen: den Online-Seminaren oder „Webinaren“,der Arbeit auf einer Online-Plattform und –gewissermaßen als Gegengewicht zur digitalen Seite des Kurses –gelegentlichen Präsenzveranstaltungen. 

Online-Seminare

Das Herzstück des Kurses bilden die online erteilten Unterrichtsstunden. Sie finden zweimal in der Woche nachmittags zu festgelegten Zeiten statt und dauern jeweils 45 Minuten. Um an den Webinarenteilzunehmen,treten alle Schülerinnen und Schüler (über einen geschützten Zugang)in einen Online-Klassenraum ein, der durch das Konferenzsystem „Adobe Connect“ bereitgestellt wird. Sie können sich in diesem Raum zu Wort melden, das Rederecht erhalten und wie im regulären Unterricht Beiträge liefern. Das System ermöglicht es zwar, dass die Teilnehmerinnen und Teilnehmer auch über die Kamera am eigenen Rechner sichtbar sind, doch wird darauf im aktuellen Projekt verzichtet, um die Ablenkung, die entstehen könnte, zu vermeiden. Sichtbar ist in einem kleinen Videofensterallein die Lehrkraft. Den größten Teil des Bildschirms füllt eine Fläche, die im Sinne einer Tafelgenutzt werden kann: Die Lehrkraft  kann simultan  zum  Unterrichtsgeschehen Tafelbilder erstellen und auch Schülerinnen und Schüler daran mitwirken lassen oder aber Materialien auf vorbereiteten Folien zeigen; auch das Abspielen von Filmsequenzen ist möglich. Schließlich besteht für die Lerngruppe und die Lehrkraft die Möglichkeit, während der Unterrichtsstunde in einem Chat-Fensterschriftlich miteinander zu kommunizieren. Dies ist besonders in dem Fallhilfreich, wenn es technische Probleme gibt und eine Schülerin oder ein Schüler nur zuhören, nicht aber sprechen kann.

Die wichtigste Frage beim Start des Online-Kurses bestand darin, ob die Webinare die ihnen zugedachte tragende Rolle erfüllen können. In den Webinaren soll nämlich die unterrichtliche Progression stattfinden: Die Schülerinnen und Schüler sich erarbeiten den neuen Grammatikstoff und wenden ihn erstmalig an. Im Fokus der Webinar-Arbeit soll außerdem – für das Fach Latein typisch – das Übersetzen von Texten stehen. Grundlage der Arbeit ist dabei ein Lateinlehrbuch, das die Schülerinnen und Schüler auch in einer digitalen Variante nutzen können. Die bisher gesammelten Erfahrungen geben eine eindeutige Antwort auf die Frage, ob die Webinare das Gewünschte leisten: Sie tun es in uneingeschränktem Maße. Der Stand der Arbeit entsprach zu jedem Zeitpunkt dem in Face-to-face-Kursen. Er übertrifft diese sogar im Tempo der Progression. Wie der Vergleich mit einer nicht digital arbeitenden Gruppe zeigt, liegt der Online-Kurs in Hinblick auf das Arbeitspensum in der Regel zwei bis vier Lektionen vor dieser. Eine zweite Frage bestand darin, ob das Format „Webinar“ die Schülerinnen und Schüler ausreichend aktiviert und zur Mitarbeit anregt. Denn es könnte die Gefahr bestehen, dass die ausschließlich digitale Anwesenheit im Klassenraum – verbunden mit der Unsichtbarkeit – die Zurückhaltung der Schülerinnen und Schüler steigert und dass der an den Bildschirm gebundene Unterricht allzu frontal ausgeführt wird.    In der Tat zeigt sich, dass der Unterricht im Webinar-Format vorrangig im Unterrichtsgespräch erfolgt und sich einzelne Schülerinnen und Schüler leicht zurückziehen können. Eine generelle Zurückhaltung der Teilnehmerinnen und Teilnehmer und eine übermäßige Lehrerzentrierung finden allerdings nicht statt. Die Schülerinnen und Schüler zeigen sich sogar sehr aktiv. Die Beteiligung übertrifft im Durchschnitt die der Referenzgruppe: Der direkte Vergleich einzelner Stunden hat erbracht, dass die online lernenden Schülerinnen und Schüler sich im Durchschnitt doppelt so stark beteiligen. Auch die Teilnehmerinnen und Teilnehmer des Online-Kurses selbst gaben in einer Befragung am Ende des ersten Lernjahres zu 85 % an, dass sie sich ihrer eigenen Wahrnehmung nach in den Webinaren stärker beteiligen als im Regelunterricht an ihren Schulen. Nach den Ursachen für ihr Verhalten befragt, nennen 92 % von ihnen das digitale Medium; das Interesse am Fach folgt an zweiter Stelle mit 53 %. 

Arbeit mit der Online-Plattform 

Während die Webinare das progressive Element im Konzept des Online-Kurses darstellen, dient die Arbeit mit der Plattform „Moodle“ dem Ziel, die erworbenen Kenntnisse zu festigen und neue Fähigkeiten weiter einzuüben. Auf der Plattform werden den Schülerinnen und Schülern jeweils nach der zweiten Webinar- Stunde Aufgaben gestellt, die sie bis zu einem festgelegten Zeitpunkt bearbeiten müssen. Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer des Kurses entscheiden selbstständig, wann sie im vorgegebenen Zeitrahmen den Test lösen, sie entscheiden frei, wie schnell sie arbeiten und ob sie den Test mit oder ohne Unterbrechung durchführen, und sie entscheiden nach eigenem Ermessen darüber, ob sie nach Abschluss des Tests die Aufgaben erneut lösen; dies ist nach einem festgelegten Intervall zwei weitere Male möglich. Die Schülerinnen und Schüler erhalten nach Abschluss eines Durchgangs sofort Rückmeldung über die erbrachte Leistung in Form eines Punktwertes, der automatisch ermittelt wird. Der zuletzt genannte Aspekt hat sich als bedeutsam erwiesen. 80 % der Kursteilnehmerinnen und -teilnehmer gaben am Ende des ersten Lernjahres an, dass sie die Erwartung eines sofortigen Feedbacks motiviere, die Aufgaben zu bearbeiten. Die Abwechslung der Aufgabentypen motiviert die Schülerinnen und Schüler nach eigenen Angaben zu 65 %, der Inhalt der Aufgaben zu 32 %. Die Ergebnisse, die die Schülerinnen und Schüler bei der Bearbeitung der Test-Aufgaben erbringen, geben eine deutliche Auskunft über ihren Leistungsstand. Nach dem ersten Lernjahr zeigt sich folgendes Bild:

  • Der leistungsstärkste Schüler und die leistungsstärkste Schülerin erreichen einen durchschnittlichen Wert von 87 % der maximalen Punktzahl. Dies entspricht gemäß den schleswig-holsteinischen Fachanforderungen der Note 1-.
  • Zehn Schülerinnen und Schüler erreichen mindestens 73 %. Dies entspricht dem Bereich der Note 2.
  • Der schwächste Schüler erreicht 53 % und damit die Note 4.
  • Es gibt keine schwach ausreichenden, mangelhaften oder ungenügenden Leistungen.
  • Durchschnittlich erreicht die Lerngruppe den Wert 73 %, also die Note 2-. 
  • Die durchschnittliche Leistung der Referenzgruppe, die durch gelegentliche Tests und Klassenarbeiten ermittelt wurde, liegt deutlich darunter (Note 3 -).

Das erfreuliche Ergebnis ist gewiss auch darauf zurückzuführen, dass die Teilnehmerinnen und Teilnehmer am Online-Kurs in der Regel leistungsstarke Schülerinnen und Schüler sind, allerdings muss ebenso in Rechnung gestellt werden, dass es selbst für diese Schülerinnen und Schüler eine erhebliche Belastung darstellt, ein zusätzliches und noch dazu so anspruchsvolles Fach wie Latein zu belegen.

Die Testergebnisse zeigen außerdem, dass die Leistungsentwicklung bei der Mehrzahl der Schülerinnen und Schüler nur geringe Schwankungen aufweist; dies gilt insbesondere für die zehn leistungsstärksten Schülerinnen und Schüler. Da die Ergebnisse wöchentlich anfallen, lassen sich Leistungseinbrüche erfreulich rasch erkennen. Die Lehrkraft wird dadurch in die Lage versetzt, sofort zu reagieren.

Präsenzveranstaltungen

Die Schülerinnen und Schüler des Kurses stammen aus allen Regionen Schleswig-Holsteins und versammeln sich im Online-Kurs wöchentlich zu einer Lerngruppe, die es ohne digitale Medien nicht geben würde. Sich regelmäßig persönlich zu treffen, um Latein zu lernen, ist ausgeschlossen – auch deshalb, weil ein Schüler von der Hochseeinsel Helgoland anreisen müsste und eine Schülerin eine Zeitlang wegen eines Austausches in Frankreich war. Auch wenn sich persönliche Begegnungen nur schwer organisieren lassen, so sind sie dennoch notwendig: Sich ausschließlich digital zu begegnen, ließe das Projekt zu einem anonymen Verfahren werden, das den Persönlichkeiten der Schülerinnen und Schülern nicht gerecht werden und den sozialen Aspekt des Lernens vernachlässigen würde. Einmal im Semester findet darum eine Präsenzveranstaltung statt, bei der alle Teilnehmerinnen und Teilnehmer leibhaftig zusammenkommen. Das Treffen dient vor allem dem sozialen Miteinander, bietet aber auch Raum für kulturelle Erlebnisse, die digital nicht in gleicher Weise erfahrbar sind, z. B. den Besuch eines Museums oder einer Theateraufführung.

Fazit und Ausblick

Das im Fach Latein begonnene Online-Projekt erweist sich zur Halbzeit seiner Durchführung als erfolgreich: Die Schülerinnen und Schüler nehmen den Kurs ernst, erfüllen meist gewissenhaft ihre Pflichten und erbringen erfreulich gute Leistungen. Dass engagiert gelernt wird, liegt zum einen daran, dass sich der Kurs schulisch gibt: Im Inhalt, im Anspruch und in der Verbindlichkeit gibt es keine Abstriche gegenüber regulären Kursen. Zum anderen übt die mediale Seite des Kurses einen Reiz aus, der nicht zu erlahmen scheint:

Am Ende des ersten Semesters kamen 80 % der Teilnehmerinnen und Teilnehmer zu der Einschätzung, dass sie sehr gern am Kurs teilnehmen; 20 % taten das gern. Am Ende des zweiten Semesters waren es 70 % der Teilnehmerinnen und Teilnehmer, die äußerten, dass sehr gern, 30 %, dass sie gern am Kurs teilnehmen. Als wichtigsten Grund für ihr ausgesprochen positives Urteil nannten in beiden Halbjahren 100 % der Schülerinnen und Schüler die Arbeit mit den Medien. Dabei handelt es sich wohlgemerkt nicht um Medien, die sich durch eine spektakuläre Gestaltung auszeichnen, sondern um sachlich gestaltete und funktionale Arbeitsmedien. Aufgrund des erfolgreichen Verlaufs des ersten Kurses, der nun in sein zweites und abschließendes Jahr geht, wurde im Schuljahr 2017/18 ein Nachfolgekurs im Fach Latein eröffnet, der unter den gleichen Voraussetzungen arbeitet und nach demselben Konzept angelegt ist. Die ersten Erfahrungen mit diesem zweiten Kurs bestätigen die Eindrücke, die beim ersten gesammelt werden konnten. Bislang beschränkt sich das Angebot, ein Fach in einem Online-Kurs zu lernen, auf den Lateinunterricht. Vielleicht ist es kein Zufall, dass gerade dieses Fach die Vorreiterrolle beim schulischen Online-Lernen übernommen hat. Die alte Sprache Latein und die modernen Medien harmonieren grundsätzlich und auch im vorgestellten Projekt gut miteinander. Dass das Fach Latein auf Schriftlichkeit besonderen Wert legt und der Visualisierung sprachlicher und textlicher Strukturen große Bedeutung beimisst, erweist sich in den Webinaren als Vorteil; denn die auf der großen Tafelfläche des Webinarraums präsentierten Materialien bilden den ständigen Bezugspunkt des Unterrichts. Außerdem ist vorteilhaft, dass es im Fach Latein – etwa bei sprachlichen Analysen – eindeutige Lösungen gibt; das erleichtert die Erstellung, Bearbeitung und Bewertung der Aufgaben auf der Lernplattform. Das vorgestellte Konzept, Unterricht in Online-Kursen zu geben, kann aber gewiss auch auf andere Fächer übertragen werden. Die Verbindung der drei Komponenten (Webinare, Arbeit auf Lernplattformenund Präsenzveranstaltungen)ist nicht fachspezifisch und bietet zahlreiche Variationsmöglichkeiten.

Neben der Übertragung des Modells auf andere Fächer ginge es in Zukunft auch darum, dass derartige Online-Kurse nicht nur Teil eines Enrichment-Angebotes sind, sondern an die Stelle regulären Fachunterrichts treten. In diesem Fall wäre vor allem das Problem der Leistungsmessung zu lösen. Dass dies gelingen kann, zeigen bereits Fernhochschulen und Online-Lehrgänge auf verschiedenen Berufsfeldern. Natürlich muss, bevor weitere Schritte gegangen werden, grundlegend darüber diskutiert werden, ob Online-Kurse überhaupt und – wenn ja – in welchem Umfang wünschenswert sind. Ein Rigorismus erscheint in dieser Frage allerdings unangebracht: Es ist weder erstrebenswert, Unterricht ausschließlich digital zu erteilen, noch das Online-Lernen vollständig zu verwerfen. Das eine ließe außer Acht, wie wichtig die persönliche Begegnung

im Unterricht ist, das andere ließe Chancen für ein breiteres Bildungsangebot ungenutzt. Das vorgestellte Projekt zum Online-Lernen macht jedenfalls Mut, den begonnenen Weg weiterzugehen und neue Lernmöglichkeiten zu eröffnen.

Top